Der verborgene Gott
Wir Christen sprechen bisweilen sehr locker und hemdsärmelig von Gott. Wir wissen viel von ihm zu sagen, haben ein theologisches System und möchten andere gerne überzeugen. Da kann es schon mal passieren, dass wir von Gott reden, wie von einem netten Onkel, oder vom Herrn Jesus, wie von Herrn Meier. Gott wird in Gebeten schon mal „Paps“ genannt (statt Vater oder „Papa“) und ein Kinderlied sagt: „Du nimmst mich in den Arm und knuddelst mich so“. Das gibt hundert Punkte für Emotionalität - doch es bleibt die Frage, ob das Gott angemessen ist.
Ich habe bei solchen Redensarten meine Fragezeichen, doch ich kann sie stehen lasse, wenn deutlich wird, dass Gott auch der ganz andere ist: Heilig, furchtgebietend, unnahbar und fremd! Nicht nur „der liebe Gott“, sondern auch der Schöpfer, der Allmächtige, der Richter, der der auch harte Schicksale zulässt. Unser Gott ist der, vor dem die Welt erzittert (vgl. 1.Chr 16,30)! Und wir, die wir ihn kennen, wir sollten sogar mehr Achtung und Ehrfurcht haben. Ein Gott, dessen mächtige und erschreckende Seite vergessen wird, der wäre ein „Gottchen“, ein Hosentaschen-Gott.
Die christliche Theologie spricht darum auch von der verborgenen Seite Gottes, dem „Deus absconditus“. So sagt Jesaja 45,15: „Fürwahr, du bist ein verborgener Gott, du Gott Israels, der Heiland.“ Die Bibel spricht oft von Seiten Gottes, die uns fremd sind und oft auch fremd bleibt: In Jeremia 23,23 sagt Gott: „Bin ich denn nur ein Gott, der nah ist? Bin ich nicht auch ein Gott, der fern ist?“ Und wer darauf achtet, der findet es überall: Die Psalmen reden oft davon, dass Gott fern ist; Amos sagt: „Ist etwa ein Unglück in der Stadt, dass nicht der HERR bewirkt hätte?“ (Amos 3,6). Jeremia klagt laut, dass Gott ihm auflauert, wie ein Bär oder Löwe (Klagelied 3,10); Hiob will diesen ungerecht erscheinenden Gott zur Rechenschaft ziehen. Und Jesus schreit zuletzt: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“
Wer nach dem lebendigen Gott fragt, dem löst sich nicht alles auf. Der versteht auch nicht alles. Dem bleibt Gottes Handeln oft fremd: „Wo warst du? Warum lässt du das zu? Wie soll ich das verstehen?“ Doch die Bibel ermutigt uns, so mit Gott zu reden, ihm das zu sagen, mit dieser Not zu ihm zu kommen. Diese Seite Gottes ist also nicht der Anlass für uns, uns von Gott zu lösen und ihn den Laufpass zu geben. Nein, wir akzeptieren damit, dass Gott größer ist als wir, dass er nicht unser Dienstleister ist, dass nicht er von uns abhängt, sondern wir von ihm. Und dann geschieht etwas mit uns: Wir geraten in die richtige Position zu Gott, unter ihm, als seine Kinder, abhängig von ihm, aus seiner Gnade lebend. Gott freut es, wenn wir diese schwierige Seite nicht verdrängen, sondern dennoch zu ihm kommen.
Er sagt: „Meine Hand hat alles gemacht, was ist, spricht der Herr. Ich sehe aber auf den Elenden und auf den, der zerbrochenen Geistes ist und der erzittert vor meinem Wort.“ (Jes 66,2)
Das Gegenstück zum „Deus absconditus“ ist übrigens der „Deus revelatus“ – der Gott, der sich offenbart hat. Vieles von Gott bleibt uns fremd, aber vieles hat er uns auch gezeigt und ist uns nahe, etwa in der Bibel und erst recht in Jesus Christus. Hier finden wir Frieden und Klarheit und Freude. Hier entsteht Freude an unserem großen Gott, dass er sich so klein gemacht hat, dass wir ihn in Jesus sehen können!
Christian Pestel