Auf ein Wort: Sekten
Ein Wort, das man doch nicht zu erklären braucht. Das ist doch klar: Was politisch-korrekt und etwas langweilig ist, das ist Kirche, was aber irgendwie komisch, extrem oder unangepasst ist, das ist Sekte. Wenn also Leute bei dir klingeln und mit dir über Harmagedon reden wollen, ist es eine Sekte. Oder etwa nicht?
Aber ganz so einfach ist es nicht. Der Sekten-Begriff ist natürlich die Abwertung einer Mehrheit gegenüber einer unerwünschten, religiösen Minderheit. Auch die ersten Christen wurden zu Anfang eine Sekte genannt (Apg 24,5.24) - aus der Sicht der jüdischen und römischen Mehrheit. Und die Baptisten galten bei uns bis Mitte des 20. Jahrhunderts als Sekte – weil die großen Kirchen nicht anerkennen wollten, dass es auch noch andere, legitime Kirchen gibt. Zum Glück ist das vorbei.
Als ich Jugendlicher war, kam der Sektenbegriff noch einmal groß raus. In der Schule wurde bei uns viel über Sekten gesprochen. Wir wurden gewarnt vor Bhagwan, Hare Krishna und der Moon-Kirche. Man kann es sich das heute kaum vorstellen, doch in der Zeit von kaltem Krieg und Materialismus hatten „Jugendreligionen“ Konjunktur und Bhagwans Disco-Theken und vegetarische Restaurants waren hip und sinnstiftend!
Heute geht es natürlich gar nicht mehr, dass die Mehrheit eine Minderheit beurteilt und ein religiöses Werturteil abgibt. Darum ist der Sekten-Begriff aus der Mode gekommen. Und das ist gut so! Wie aber können wir darüber reden? Dafür ist es wichtig, wahrzunehmen, wie sich die Lage verändert hat.
a) Zum einen ist der christliche Glaube nicht mehr die gemeinsame Grundlage der Gesellschaft. Es gibt keinen Konsens mehr, was in religiöser Hinsicht richtig und falsch ist. Und es wäre falsch, billig an tradierte Vorurteile anzuknüpfen.
b) Auch ist der religiöse „Markt“ ein anderer geworden: Früher ging es mehr um sichtbare, problematische Organisationen, heute eher um fluide, neureligiöse Vorstellungen, um Angebote im Internet, um dubiose Therapie-Angebote und Life-Coaches. All das ist nicht weniger problematisch, aber weniger greifbar.
c) Wichtig ist es, möglichst neutrale Begriffe zu verwenden, die keinen abwerten. Man kann von „neureligiösen Bewegungen“ sprechen oder die Zeugen Jehovas eine „christliche Sondergruppe“ nennen. Damit gibt man seinen Standpunkt nicht auf, unterbindet aber nicht von vornherein den Dialog.
d) Auch der Staat musste den Sektenbegriff um seiner religiösen Neutralität willen aufgeben. Darum verwendet das Land Baden-Württemberg in seinem ehemaligen „Sektenbericht“ nun den Begriff der „gefährlichen weltanschaulich-religiösen Angebote“. Das zeigt, dass den Staat der Inhalt von Religionen erst zu interessieren hat, wenn es um Gefahren im Sinne des Strafrechtes geht.
Als Christen und Kirche sollten wir besonders vorsichtig sein mit Diskriminierung von Glaubensgemeinschaften und Randgruppen. Denn in einer säkularen Umgebung sind wir doch selbst eine religiöse Minderheit geworden! Und wie Jesus gesagt hat, könnten auch wir wieder einmal von der Mehrheitsgesellschaft als Gefahr bezeichnet werden (Mt 5,11; Jh 16,2). In den Lagern der Nazis trafen sich ernsthafte Christen und „ernsten Bibelforscher“ wieder (damaliger Name der Zeugen Jehovas). Das sollten wir nicht vergessen.
Christian Pestel
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