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Leitartikel August/September 2024

Unser tägliches Brot gib uns heute.

Matth. 6,11

 

Vor ein paar Wochen bin ich daran erinnert worden, dass es ja manchmal in (alten) Texten Wörter gibt, die nur an dieser einen Stelle vorkommen, und deren Bedeutung man daher aus dem Zusammenhang erraten muss. Was ich nicht wusste ist, dass ein solches Wort ausgerechnet mitten im Vaterunser, einem unserer bekanntesten Bibeltexte, steht und Bibelwissenschaftler seit Jahrhunderten vor ein Rätsel stellt. Es handelt sich um das Wort „ἐπιούσιον“ (epiousion) in Vers 11 von Matthäus 6, das meist mit „täglich“ übersetzt wird. Das Problem mit diesem Wort ist, dass niemand zu wissen scheint, woher es stammt und was es wirklich ganz genau bedeutet. Epiousion war schon in der Antike so unbekannt, dass der Theologe Origenes aus dem dritten Jahrhundert zu dem Schluss kam, Matthäus habe es erfunden, als er die aramäischen Worte von Jesus auf Griechisch aufgeschrieben hat!

 

Es gibt Dutzende von Vorschlägen für die Übersetzung dieses Wortes, die sich oft auf die biblische Geschichte im weiteren Sinne beziehen. Sie reichen vom Brot, das man zum Leben braucht, über das himmlische Brot (ein Gedanke, der auf Johannes 6,51 zurückgeht) bis hin zum Brot des kommenden Reiches Gottes (siehe Matthäus 8,11; 26,29).


Vielleicht habe ich mich einfach daran gewöhnt und gehe deshalb davon aus, dass richtig ist, was die meisten deutschen Übersetzungen verwenden, nämlich das Wort „täglich“. Wie die Kinder Israels, die in der Wüste gerade genug Manna für jeden Tag sammelten, sollen wir täglich Gott um unsere Bedürfnisse bitten.

 

Das bedeutet, dass dieser Vers mit der Bitte um Brot uns nicht nur sagt, worum wir beten sollen, sondern auch, wann wir beten sollen. Der beginnende Tag bringt neue Herausforderungen mit sich, für deren Bewältigung wir uns auf Gott verlassen sollen (und dürfen!). Wir sollten uns angewöhnen, Gott jeden Morgen im Gebet zu begegnen.


Aber - feste Gebetszeiten – ist das nicht irgendwie katholisch-klostermäßig-gesetzlich und deshalb nichts für uns Freikirchler?

 

Sich Zeit, und zwar bestimmte Zeiten, für das Gebet zu nehmen, ist biblisch. Zur Zeit Jesu war das jüdische Volk dafür bekannt, täglich die Worte aus Deuteronomium 6,4 zu rezitieren: "Höre, o Israel: Der Herr, unser Gott, der Herr ist einer." Dieses Bekenntnis des Glaubens an den einen wahren Gott (das beim Aufstehen aus dem Schlaf und beim Zubettgehen gesprochen wurde) wurde von Gebeten begleitet, die Gott durch die Anerkennung seiner Versorgung und seiner mächtigen Taten verherrlichten. Wir können an den Satz aus den Psalmen denken: "Abends und morgens und mittags klage ich und stöhne, und er hört meine Stimme" (Psalm 55,17). Oder an das Beispiel Daniels: "Er ging in sein Haus, dessen Fenster in der oberen Kammer nach Jerusalem hin offen waren. Dreimal am Tag ging er auf die Knie und betete und dankte vor seinem Gott, wie er es früher getan hatte" (Daniel 6,10).

 

Es war dieses "Gebetsmuster", das sich die ersten Jünger Jesu zu eigen machten. Die erste Glaubensgemeinschaft versammelte sich in Erwartung des Pfingstfestes "einmütig im Gebet" (Apg 1,14). Derselbe Satz wird in Apostelgeschichte 2,42 verwendet, um den Rhythmus der Urgemeinde zu beschreiben: "[Sie] widmeten sich der Lehre der Apostel und der Gemeinschaft, dem Brechen des Brotes und den Gebeten". Der Apostel Paulus ermutigte diese Art des Gebets in den Gemeinden, denen er diente (Römer 12,12; Kolosser 4,2). Ein Zitat, dessen Urheber ich leider nicht gefunden habe: "Die Vermutung, dass diese Aktivität in einem christlichen Kontext eine andere Haltung und Art des Gebets beinhaltet als im zeitgenössischen Judentum, das feste Gebetszeiten und -muster hatte, hat keine wirklichen Beweise, um sie zu untermauern ..."  Mit anderen Worten: Die Jünger Jesu haben das Muster des disziplinierten Gebets zu bestimmten Zeiten nicht aufgegeben, sondern sie haben es sich zu eigen gemacht!

 

Es braucht Zeit, oft eine bestimmte Zeit, um sicherzustellen, dass dem Gebet Priorität eingeräumt wird, so wie Jesus es in seinem eigenen Leben vorgelebt hat (siehe Markus 1,35; 6,46; Lukas 5,16; 6,12; 9,28).

 

Selbst wenn wir immer noch nicht wissen, ob „täglich“ das rätselhafte Wort wirklich genau wiedergibt: Das mit dem allmorgendlichen Gebet um das tägliche Brot ist eine richtig gute Idee!

 

Dierk Evers

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