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Oralität und Mission

Dass du diesen Artikel liest, das sagt schon etwas über dich und deine Kultur. Zunächst einmal beweist es, dass du lesen kannst. 13,7 % der Erwachsenen in der Welt (10,0 % der Männer, 17,3 % der Frauen) sind Analphabeten (laut CIA World Factbook). Und du kannst nicht nur lesen, du tust es auch gerne und freiwillig und bist in der Lage, aus geschriebenen Texten wichtige Informationen herauszuziehen. Du gehörst somit zu den Vertretern einer schriftlichen Kultur.


Na klar, du lebst in Deutschland, und unsere Kultur ist eine schriftliche! Ich bin mir aber nicht sicher, dass das so stimmt. Es stimmt, unsere Leitkultur, das in der Schule vermittelte Wissen, unser auf Bibelkenntnis gründendes Gemeindeleben, das basiert alles auf schriftlichen Texten. Aber wenn ich mich umsehe, wie viele Alte lieber Fernsehnachrichten schauen statt Zeitung zu lesen und wie viele Junge ihre Informationen eher aus YouTube- und TikTok-Videos als aus Textbeiträgen ziehen, dann habe ich doch meine Zweifel, dass wirklich die überwältigende Mehrheit der Menschen bei uns Informationen in schriftlicher Form bevorzugt.


Dort wo die Leitkultur nicht schriftlich, sondern mündlich ist, ist dieser Effekt noch viel stärker. Die Mehrzahl der Sprachen auf der Erde (meist sehr kleine) ist niemals geschrieben worden. Wer in diesen Volksgruppen lesen und schreiben kann, kann dies nur in einer Fremdsprache tun. Außerdem gibt es viele Kulturen, die zwar Schrift kennen und nutzen, aber nur durch eine kleine Minderheit der Menschen und nur für bestimmte Zwecke der Informationsbewahrung – so wie es auch bei uns im Mittelalter war. In all diesen Ländern und Kulturen ist der normale Weg der Weitergabe von Informationen oder Ideen mündlich. Man nennt solche Kulturen „orale Kulturen“ und ihre Art der Weitergabe von Informationen oder Ideen „Oralität“.


Wie gehen wir nun vor, wenn wir, so wie Jesus es befohlen hat, auch Menschen aus solchen Kulturen die Gute Nachricht bringen wollen? In der Regel werden verschiedene Dinge parallel laufen:


Sobald die christlichen Missionare oder Evangelisten die Sprache der Volksgruppe können, werden sie anfangen, Zeugnis zu geben, also praktisch das gleiche was wir tun, wenn wir Nachbarn und Kollegen von unserem Glauben erzählen. Dies findet bei uns wie dort mündlich statt. Wenn Menschen dann interessiert sind und mehr wissen wollen, setzt bei uns die Weitergabe von schriftlichem Material (Bibel, andere Bücher) ein, in oralen Kulturen beginnt jetzt die Arbeit mit Bibelgeschichten. Man erzählt Geschichten über Jesus und andere biblische Geschichten in der Sprache der Menschen. Um jetzt keine Fehler zu machen, beginnt man jetzt auch mit den Vorbereitungsarbeiten für eine Bibelübersetzung – der Analyse der Sprachbilder und der Erarbeitung von guten Übersetzungen für bestimmte typische christliche Konzepte. So wird sichergestellt, dass die Bibelgeschichten korrekt verstanden werden. Immer größere Teile der Bibel werden so als Bibelgeschichten erzählt. Das ist nicht das Vorlesen einer Übersetzung; beim Geschichten erzählen nutzt man automatisch eine andere Sprache mit eher kürzeren Sätzen, und man kann, was bei schriftlichen Texten gar nicht geht, mit Betonung, Gestik und so weiter die Inhalte unterstützen. Diese biblischen Geschichten werden dann oft auch von geübten Geschichtenerzählern gesprochen und aufgenommen und dann als mp3-Datei unter den Menschen verteilt.


Jetzt ist ein ordentlicher Teil der Vorarbeit für eine Bibelübersetzung bereits getan, und deshalb ist es jetzt durchaus sinnvoll, eine solche Übersetzung herzustellen. Danach wird man für interessierte Menschen auch Leselernklassen anbieten müssen, damit sie diese neue Übersetzung auch nutzen können. Dennoch wird es in solchen oralen Kulturen oft so sein, dass nur wenige Menschen ernsthaft daran interessiert sind, die Kunst des Lesens zu erlernen und wirklich die Bibel zu lesen. Sehr viele werden stattdessen bei ihren Bibelgeschichten bleiben, die sie sich erzählen lassen oder auf ihren elektronischen Geräten anhören.

Dies ist auch keineswegs minderwertig gegenüber dem Lesen, denn sie können über die vorgetragenen Geschichten und über Predigten genau so viel über unseren Glauben lernen wie mit Hilfe von Büchern.


Wenn wir so vorgehen, dann haben wir die beste Botschaft der Welt in kulturell relevanter Weise weitergegeben und nicht von den Menschen verlangt, sich unserer Schriftkultur anzupassen.


Was wir in diesem Prozess lernen, das können wir auch bei uns anwenden. Ich habe von einer Organisation in den USA gelesen, die christliche TikTok-Videos veröffentlichen und begeistert berichteten, wie viele Tausend Bitten um Kontaktaufnahme sie darauf bekommen.


Dierk Evers


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